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Dr. Karl-Hinrich Manzke, Landesbischof der Ev.-Luth. Landeskirche Schaumburg-Lippe

(Es gilt das gesprochene Wort!)

Herr, du erforschest mich und kennest mich. Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. (Psalm 139)

Liebe Gäste,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Frau Jalowaja,
liebe Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Schaumburg,

bevor ich mit meinen Worten und meiner persönlichen Erfahrung im Hintergrund die Arbeit von Frau Jalowaja im heutigen Zusammenhang beschreiben und so würdigen möchte, erlauben Sie eine Vorbemerkung. Es ist für unsere Landeskirche, für die St. Martini- Gemeinde und für mich persönlich eine große Ehre, eine Freude, dass wir der Übergabe des Blickwechselpreises an Frau Marina Jalowaja heute nicht nur als Gäste beiwohnen dürfen, sondern in Absprache mit dem Verein „Begegnung Christen und Juden Niedersachsen e.V.“ diesen Festakt mit ausrichten dürfen. Frau Jalowaja traut uns dieses zu und vertraut uns, der Landeskirche Schaumburg-Lippe, dieses sogar an, hier und heute in der St. Martinikirche ihr Wirken zu würdigen. Das ist, liebe Frau Jalowaja, ein großartiges Geschenk, das Sie uns machen. Das steht für das gewachsene Vertrauen zwischen uns persönlich, liebe Frau Jalowaja, zwischen der christlichen Gemeinde und der jüdischen Gemeinde in Schaumburg – zwischen den Religionsgemeinschaften, die seit vielen Jahren miteinander im Austausch sind und ihr verbindendes Engagement für die Menschen in unserer Region auch gemeinsam zum Ausdruck bringen. Das bewegt uns sehr, meine Damen und Herren, dass wir heute in der St.

Martinikirche zu Stadthagen zusammenkommen, um die Persönlichkeit von Frau Jalowaja zu würdigen. Eine Würdigung übrigen, die Frau Jalowaja immer auf die gesamte jüdische Gemeinde beziehen möchte.

1. Der Verein „Begegnung Christen und Juden Niedersachsen e.V.“ hat in seiner großen Weisheit für das Jahr 2021 für seinen Blickwechselpreis genau die Richtige auserwählt! Das ist für uns gewiss. Ist doch das Wirken von Frau Jalowaja ein großer Segen für unsere Region, wie für das Miteinander der Religionen im Kreis Schaumburg - und ein großes Beispiel dafür, was Menschen mit Leidenschaft und Liebe zu ihrer Aufgabe zu leisten vermögen. Dafür steht Frau Jalowaja, von einer Aufgabe inspirierte Menschen können mit ihrem Glauben und ihrer Energie gleichsam Berge versetzen, wenn es ihnen gelingt, andere Menschen mitzunehmen. Vor wenigen Tagen hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Eröffnung des „Europäischen Zentrums für jüdische Gelehrsamkeit“ in Potsdam sehr eindrücklich gewürdigt, dass jüdisches Leben im Gebiet des heutigen Deutschland wieder eine Selbstverständlichkeit geworden ist. Das dürfen wir heute gemeinsam, das möchte ich mit großer Freude und Dankbarkeit hier für unseren Kreis Schaumburg unterstreichen. Bundespräsident Steinmeier hat ebenfalls darauf aufmerksam gemacht, dass im Jahr 2021 daran erinnert werden kann, dass es seit 1700 Jahren jüdisches Leben im Gebiet des heutigen Deutschland gibt. Und das jüdische Leben hat vor dem Zivilisationsbruch der Schoa „nicht nur in den großen Städten geblüht, sondern auch auf dem Land und in den kleineren Orten, in Brandenburg“ genau so wie in Schaumburg. Das wird auch mit der Übergabe des Blickwechselpreises an Frau Jalowaja heute gewürdigt, welch große Tradition jüdisches Leben im Gebiet des heutigen Deutschland hat – und welch unverzichtbaren Beitrag jüdische Gemeinden für unsere Kultur, das wirtschaftliche Leben und das gesellschaftliche Miteinanderüber 1700 Jahre geleistet haben und Gott sei Dank wieder leisten.

2. Geboren 1958 in Charkow, die Ukrainer nennen es Charkiw, im östlichsten Teil der heutigen Ukraine steht der Lebensweg von Frau Marina Jalowaja für viele, die seit den 80iger Jahre aus der ehemaligen Sowjetunion aufgrund von Diskriminierung und Verfolgung, die die Menschen jüdischen Glaubens erfuhren, in andere Regionen der Erde, nach Israel, in die USA, aber auch nach Deutschland ausgewandert sind. Die junge Marina hat nach ihrem Schulabschluss eine bemerkenswerte, eine unglaubliche Karriere machen dürfen und einen uns großen Respekt abverlangenden Lebensweg bis zum heutigen Tag nehmen dürfen. Frau Jalowaja würde unbedingt sagen –einen durch die Barmherzigkeit Gottes geführten Weg. Sie entstammt der Familie eines Vaters, der als Pilot zunächst in der sowjetischen Armee gedient hat und dann in der zivilen Luftfahrt beschäftigt ist. Die Mutter hat als Übersetzerin in Charkiw gearbeitet und der Tochter auch die Fähigkeit, Sprachen zu lernen und zu erfassen, mitgegeben. Beide Familien mit einer langen und großen Geschichte.

1995 kam Frau Jalowaja mit ihrer jungen Familie nach Deutschland und hat zunächst –nach kurzen Zwischenaufenthalten- in Bückeburg gelebt. Die neue Sprache, die neue Kultur, die Sitten und Gebräuche Schaumburgs kennen zu lernen und sich anzueignen- allem hat sie sich mit großer Leidenschaft und Hingabe gestellt. Sie hat für andere, selber noch mit der deutschen Sprache am Anfang stehend, in Bückeburg eine Sprachschule gegründet. Und schnell Menschen gefunden, die sich von einer guten Idee anstecken ließen. Sie hat sofort Verantwortung übernommen. Die Gründung der jüdischen Kultusgemeinde in Schaumburg mit Sitz in Bad Nenndorf im Jahr 2002 ist ohne Frau Jalowaja -gemeinsam mit Frau Nekrasova, die hier ebenfalls zu nennen ist, nicht denkbar. Wie viele, die aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen sind, hat Frau Jalowaja die Wurzeln ihres jüdischen Glaubens hier in Deutschland neu buchstabieren gelernt. Sie hat sich zusammen mit anderen russischen Juden die jüdische Religion erarbeitet und erobert und neu in ihrem Leben und dann in der Kultusgemeinde umgesetzt und damit für jüdisches Leben in Schaumburg Wurzeln gelegt. Sie hatten keinen eigenen Rabbi, der sie unterrichten konnte; der Landesrabbiner freilich hat sie unterstützt, wie man Gottesdienste und Fest feiert, wie man die hebräischen Gebete ausspricht, was sie übersetzt bedeuten –und vieles mehr.

Das Projekt der „Alten Synagoge“ hier in Stadthagen hat sie mit großem Wohlwollen und mit weitem Herzen unterstützt und nach Kräften gefördert.

Frau Jalowaja ist die Begegnung mit anderen Religionen wichtig. Unsere interreligiösen Begegnungen und Gespräche wären ohne Frau Jalowaja nicht denkbar in Schaumburg. Jährlich organisiert sie einen Kulturtag der jüdischen Gemeinden als Ort der Begegnung, des Festes und des Dialoges für Vertreterinnen:Vertreter von Politik, gesellschaftlichen Organisationen, Kirchen und Religionsgemeinschaften.

3. Wie Lessing über seinen Nathan sagt: „Du bleibst nicht stehen dort, wohin ein Geschick dich einst gestellt hat, sondern du wirst Flügel nehmen und der Herr wird deinen Schritten Prägekraft geben“ so hat es sich auch an Marina Jalowaja und durch ihre große Gaben bewahrheitet. Dieses Wort über den weisen Nathan ist wahr geworden an dem Lebensweg von Marina Jalowaja. Mit unverwüstlicher Leidenschaft und Liebe ist sie für die jüdische Kultusgemeinde, für das Miteinander der Religionen aktiv und durch ihren persönlichen Charme nimmt sie andere mit. Der von ihr und mir geliebte Anton Tschechow hat einmal gesagt: „Eine Erzählung, die wirklich Gewicht hat, ohne Frau ist wie eine Maschine ohne Dampf.“

Bei den Aktionen „Bad Nenndorf ist bunt – Schaumburg ist bunt“, habe ich Frau Jalowaja 2010 kennengelernt und in diesem Zusammenhang einen ersten Besuch bei der jüdischen Gemeinde in Bad Nenndorf machen können.
Gerade auf dem Hintergrund dessen, dass das jüdische Leben in Deutschland nicht nur wieder erwacht ist, sondern wächst, schmerzt es und macht es zornig, dass sich Antisemitismus, antisemitische Hass und Hetze in Deutschland wieder offen zeigen. Nicht nur in Halle und in Berlin und bei Anschlägen und Übergriffen. In der Corona-Pandemie feiern auch krude antisemitische Verschwörungstheorien hässliche Urstände. Das ist unerträglich, so sage ich es mit dem Bundespräsidenten, als der vor wenigen Tagen bei der Eröffnung des Europäischen Zentrums für Gelehrsamkeit in Potsdam sprach. Darauf kann es für uns auch in Schaumburg nur eine Antwort geben: Wir, jeder einzelne und wir als ganze Gesellschaft dulden keinerlei Antisemitismus. Und wir schauen auch nicht weg. Wir wehren den Anfängen im Alltag, ehe aus Worten Taten werden und treten denen entschieden entgegen, die Hass und Hetze verbreiten.

4. Nun habe ich mit Worten aus dem Psalm 139 begonnen. Mit einem Blick auf das Buch der Lieder und Gebete, das Psalmbuch – so, mit einem Blick auf dieses Buch, ist es mir hoffentlich erlaubt, möchte ich schließen. Menschliches Leben ist nie nur Ausdruck dessen, dass Menschen das einsammeln, was sie selbst ernten oder geplant haben. Der Satz ‚Jeder ist seines Glückes Schmied‘ ist nur die halbe Wahrheit über das Leben. Sondern das menschliche Leben, davon weiß das Psalmbuch viel zu singen und zu erzählen, ist immer ein Ineinander und Miteinander von geschenkter Erfahrung und Zeit, von göttlicher Führung und menschlicher Planung und Selbsttätigkeit. So habe ich Marina Jalowaja kennen und schätzen gelernt, dass diese große Weisheit der jüdischen Religion, das Leben als ein Zusammenspiel von Führen und Geführt werden, Selbsttätigkeit und „Sich geschenkt werden“ in ihrem Herzen wohnt. Dieses Wissen der Religion gehört zu Marina Jalowaja unbedingt dazu. Ohne dieses tiefe Wissen kann man sie nicht verstehen. Sie ist geradezu Zeugin dafür, dass Gott uns Menschen wunderbare Aufgaben schenkt und uns Aufgaben zutraut, die uns, wenn wir uns dazu nur einfach selbst entschlossen hätten, selbst viel zu groß erschienen wären.

Es ist für uns in Schaumburg ein großes Geschenk, dass Gott Frau Jalowaja in unsere Region t geführt hat und in ihr Herz die Leidenschaft für die Religion gelegt hat und jüdisches Leben in unserem Kreis Schaumburg –auch durch sie- wieder neu zu etablieren und zu wecken. Wir sind dankbar dafür, liebe Frau Jalowaja, das s wir mit ihnen arbeiten und leben dürfen! Und – ich höre Frau Jalowaja beinah sprechen: Nun ist aber genug gelobt, Herr Manzke! Mag sein – aber das musste heute gesagt werden! Und es gilt: Wir haben noch viel gemeinsam zu tun – und wollen Gott loben über jedem Tag, den er uns schenken will, unsere Gaben zu einem friedlichen Miteinander und zum Guten einzusetzen!

Bückeburg, 30. August 2021 Dr. Karl-Hinrich Manzke Landesbischof