Ich bin der Stadt Hannover zu tiefem Dank verpflichtet. Nach 85 Jahren hält es die Stadt für angemessen, das Andenken meines geliebten Vaters, ihres letzten Ortsrabbiners, zu ehren, indem sie seinen Namen dauerhaft mit einem öffentlichen Platz verbindet. Bei der Vorbereitung meiner Ausführungen zu diesem Anlass dachte ich an seine Rolle als Seelsorger, als Hirte gerufen, die Seelen seiner Gemeinde zu nähren. Welchen Inhalt und welche Kraft hatten die Predigten, die er während seiner turbulenten elfjährigen Amtszeit im Altarraum der großen Opplerschen Synagoge hielt? Inwieweit waren sie eine Leinwand für die Ereignisse, die das Leben seiner Gemeindemitglieder und auch sein eigenes, insbesondere nach 1933, erschütterten? Die Gründlichkeit seiner Vorbereitung ermöglicht es mir, dieser Frage nachzugehen. Denn für jede Predigt erstellte er ein sorgfältig mit Schreibmaschine geschriebenes Manuskript, das datiert und auf die hebräische Schriftlesung des jeweiligen Tages bezogen war.
Das Vorhandensein des Manuskripts bedeutet nicht, dass er den Text vorlas. Da ich an der Seite meines Vaters aufgewachsen bin, weiß ich, dass er es schätzte, frei zu sprechen und nie einen geschriebenen Text zwischen sich und seine Gemeinde kommen ließ. Um effektiv zu kommunizieren, pflegte er, Augenkontakt herzustellen, um frei in der Kommunikation zu sein. Eine sorgfältige Vorbereitung ermöglichte es ihm nicht nur, seine Gedanken zu sammeln und zu ordnen, sondern auch, sie in einer klaren Sprache auswendig zu lernen. Auf seiner ersten Vollzeitkanzel musste mein Vater im Alter von 28 Jahren, der in den intimen ländlichen Synagogen Süddeutschlands aufgewachsen war, die Stimmführung, die körperlichen Gesten und den rednerischen Stil beherrschen, die durch die Großartigkeit des Raums und die Zahl der Gottesdienstbesucher vorgegeben waren. Mit der Zeit gelang es ihm und er hinterließ uns ein homiletisches Vermächtnis, das aus einem harten Schmelztiegel erwuchs.
Zunächst teilte er sich die Kanzel mit Rabbiner Samuel Freund, dem hannoverschen Landesrabbiner, der 1907 nach Hannover gekommen war. Durch seine Anwesenheit hatte mein Vater einen bewundernswerten und freundlichen Mentor, der seine Predigttätigkeit auf höchstens zwei pro Monat reduzierte. Am 25. September 1938, am Vorabend des jüdischen Neujahrsfestes, feierte eine stark reduzierte und zutiefst dankbare jüdische Gemeinde seinen Eintritt in den Ruhestand nach 49 Jahren unermüdlichen Dienstes. Mein Vater hielt die Laudatio mit angemessenen Worten der Wertschätzung. Trotz seiner vielen Amtspflichten war Rabbiner Freund, der nicht mehr gesund war, vor allem ein religiöses Oberhaupt mit einem unerschütterlichen Glauben. Seine Befolgung der jüdischen Riten geriet angesichts innerer Erosion oder äußerer Feindseligkeit nie ins Wanken. Wie mein Vater hielt er die Institution der Synagoge für unbedingt lebenswichtig und den täglichen Minjan (Gottesdienst) für gleichwertig mit dem Altar im alten Tempel von Jerusalem, dessen Feuer niemals erlöschen durfte.
So predigte mein Vater in den letzten anderthalb Monaten vor der Reichskristallnacht insgesamt 14 Mal, zum Teil bedingt durch Rabbiner Freunds Ruhestand und zum Teil wegen der vielen Feiertage, die den jüdischen Kalender im Herbst füllen. Jede dieser Predigten war ein wohlgerundeter, in sich geschlossener Text, der von einem einzigartigen Gedanken und einem geeigneten Wortschatz getragen wurde. Die äußere Intensität änderte nichts an dem gemächlichen Tempo der Konzeption und Formulierung. Die letzte Predigt, die er am 5. November 1938 hielt, fiel auf Lech Lecha, den Toraabschnitt, in dem Gott Abraham auffordert, seine Heimat zu verlassen: „Geh aus deiner Heimat und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde." Mein Vater nannte dies „die Sidra (die Schriftstelle) der Auswanderung." Er erkannte und zählte die Härten auf, die den Gang ins Exil erwarteten, schloss aber mit einem Symbol der Hoffnung: „Die Kerne der Früchte sind (zum) größten Theile bitter, aber aus ihnen entfaltet sich ein lebendiger, blühender Fruchtbaum. So ist es auch mit dem Geschick der Ortsveränderer. Seien wir überzeugt, dass das mit verbundenem Leid letzten Endes die Blüte eines neuen Glücks aus sich herausfalten wird."
Niemand konnte den brutalen Ausbruch des Hasses vorhersehen, der sich ereignen sollte. Weniger als einen Monat später kam die Familie Schorsch mit dem Flugzeug in England an, um an diesem Abend die zweite Kerze des Chanukka-Festes anzuzünden. Und zehn Jahre später würde ich, ohne es zu wissen, meine Bar-Mizwa in Pottstown, Pennsylvania, genau an dem Schabbat feiern, an dem die Tora-Lesung wieder einmal auf Lech Lecha fallen würde, den Abschnitt, der das Ende des deutschen Rabbinats meines Vaters kennzeichnete. Die Entdeckung dieser gewichtigen, aufrüttelnden Verbindung verdanke ich der Ehrung der Stadt Hannover meines Vaters, die mich veranlasste, seine letzten tröstenden Worte von der Kanzel in Hannover zu untersuchen.
Das Format der Predigten meines Vaters hat sich im Laufe der Zeit nicht verändert. Von Anfang an war er bestrebt, aus dem Toraabschnitt der jeweiligen Woche Sinn und Weisheit herzuleiten. Er begann seine Predigten oft mit einer Zeile aus dem Text oder sogar mit einem einzigen Wort, das ihm besonders auffiel. Die hebräische Sprache durchzog seine Ausführungen. Die Ereignisse des Tages bedurften keiner Beschreibung oder Klage. Ein alter rabbinischer Kommentar, ein Midrasch oder ein von ihm selbst geschaffenes, aussagekräftiges Bild wurde herangezogen, um den Textraum zu erweitern und ihm Resonanz zu verleihen. Für ihn waren die Worte der Schrift nicht wörtlich zu nehmen, sondern als ein Hinweis, ein Fingerzeichen, auf eine tiefere Bedeutung oder einen bedeutsamen Gedanken. Als am 22. Oktober 1938 der jährliche Zyklus der wöchentlichen Tora-Lesung zu Bereishit (dem Anfang der Genesis) zurückkehrte, wagte er es, der ewigen Wiederholung einen Sinn zu geben. Das Ritual sei nicht linear, sondern kreisförmig zu verstehen. Wie die Jahresringe eines Baumes so bereichert die Tora die jüdische Seele ständig mit neuen Erkenntnissen und Erfahrungen. Wie ein Baum wachsen wir von innen nach außen in alle Richtungen gleichzeitig. Das neue Wachstum stärkt uns allmählich, um allen Arten von Unbilden des Wetters zu widerstehen.
Mein Vater war kein Romantiker, der die menschliche Seele berühren wollte, sondern eher ein Rationalist mit tiefem Glauben. Seine Helden waren Männer wie Ibn Gabirol, Pascal und Kant, die durch die Vernunft zu einem immer und überall gegenwärtigen Gott vordrangen. Wenn wir nur wieder lernen könnten zu beten, wäre Gott für uns auf leichte Weise zugänglich. In den ersten Jahren seines Rabbinats in Hannover bestand seine Hauptaufgabe daher darin, eine säkulare und stark assimilierte jüdische Gemeinde von der Schönheit, Kraft und Bedeutung des traditionellen jüdischen Denkens und Handelns zu überzeugen. Was sich mit der Machtübernahme der Nazis änderte, war die Intensität seiner Predigt. Die düsteren Umstände verliehen plötzlich jedem seiner Worte existenzielles Gewicht. Belehren hieß nun, die Willenskraft, den Glauben und die Sprache hervorzubringen, um den nächsten Tag zu überstehen. Ohne Gemeinschaft und Gottesdienst könne man Gott nicht (wieder)finden, während Disziplin und Beharrlichkeit der Boden für ein geistliches Leben bildeten. Kurz gesagt, es war eher der Ton seiner Predigten, der sich änderte, als ihre Art. (oder ihr Inhalt?)
Was mir beim Studium der Predigten meines Vaters auffällt, ist die bemerkenswerte Authentizität und Reife seines Glaubens. Seine wohlgerundeten Worte klingen voller Überzeugung, ein Produkt tiefer Überlegungen und fortgesetzter Praxis. Religion als eine Form menschlichen Ausdrucks faszinierte ihn, wobei das gelebte Judentum sein Spezialgebiet war. Die Klarheit seiner Ideen, der Reichtum ihrer Artikulation und die Dringlichkeit seiner Ausführungen kamen einem unerschütterlichen Gefühl der Berufung gleich und verkörperten für seine bedrängte Gemeinde ein leuchtendes Beispiel eines wahren Seelsorgers.
Die beschwörenden Worte des Propheten Hosea, die Juden jeden Werktagmorgen rezitieren, wenn sie ihre Tefillin um die Finger ihrer Hand wickeln, fassen die unveränderliche Beziehung des jungen hannoverschen Ortsrabbiners zu seinem Gott zusammen: "Ich will dich für immer mit mir verloben. Ich will dich mir mit Rechtschaffenheit, mit Gerechtigkeit, mit Liebe und mit Barmherzigkeit verloben. Ich will dich mit Treue an mich binden, und du sollst den Herrn lieben."